Shears und Hollyhocks: Ein Spotlight auf das Keller Theatre zur “The Lover”-Premiere

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Maria Valentina Kiefer, Alexander-Lars Dallmann: Die bürgerliche Moral auf dem Prüfstand

Wenn man dem Wesen der Schauspielerei auf den Grund zu gehen versucht, stößt man unweigerlich auch auf die vielen Facetten des eigenen Daseins. Die Kunst und das Leben stehen in unbestreitbarer Wechselwirkung, spiegeln sich gegenseitig und können sogar voneinander lernen. Das würde der inzwischen verstorbene Theaterautor und -regisseur Harold Pinter, der 2005 auch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, sicherlich bestätigen. Eine seiner berühmtesten Arbeiten, das Beziehungs-Kammerspiel „The Lover“, wird nun von Florian Siebrecht in der Kleinen Bühne des Keller Theatre Gießen neu inszeniert – in den Hauptrollen sind Maria Valentina Kiefer und Alexander-Lars Dallmann zu sehen (Aufführungstermine siehe Infoblock*). Und wer in den Genuss kommt, den Cast während der Probephase des Stücks zu begleiten, lässt sich nicht nur von seiner Spielfreude anstecken, sondern wird auch Zeuge eines spannenden Schaffensprozesses. Die verschiedenen Versionen, die der akribische Regisseur durchexerziert, stellen unter Beweis, wie optimal sich das Stück mit seinen feinen Beobachtungen und Zwischentönen für Schauspielarbeit eignet.

Die Vieldeutigkeit ist im Sinne Pinters. Im Kern geht es im „Lover“ um ein Ehepaar, das sich über das Ausleben seiner geheimen Sehnsüchte aus der kleinbürgerlichen Enge zu befreien versucht; doch sind die „whore“ und der „lover“, bei denen die beiden vermeintlich Zuflucht suchen, in Wahrheit die Eheleute selbst? Ein Lehrstück über Liebe und Verführung und die daran geknüpften moralischen Muster, die es uns bisweilen verunmöglichen, aus unseren von der Gesellschaft zugeteilten Rollen auszubrechen, das genauso in ein viktorianisches Zeitalter mit seiner bigotten Sexualethik passt wie auch als Vorbote der sexuellen Revolution in das Jahr 1963, in dem das Stück uraufgeführt wurde. Der Blick hinter die Venetian Blinds ist umso entlarvender, weil die Erotik kaum ohne sprachliche Codes auskommt. Letzten Endes entscheidet die Interpretationsfertigkeit des Zuschauers angesicht der sheers und der hollyhocks, die da immer wieder durchs Skript geistern; Pinter lässt dezidiert Leerstellen, dennoch hat jede Szene ihre Notwendigkeit und ist minutiös durchgeplant.

Der hinter die Kulissen gerichtete Blick wiederum ist vor allem aufschlussreich. Diverse Teemischungen hat das Stage Management ausprobiert, um den charakteristischen Farbton der auf der Bühne von den Protagonist*innen verköstigten Spirituosen zu erzielen. Zudem sollte natürlich geschmacklich in Ordnung gehen und die Stimme nicht anrauen, was da in die Dekanter gefüllt wird. Um den Aktionsradius der Darsteller*innen nicht einzuschränken, wird beim Bühnensetup tunlichst darauf geachtet, die Laufwege zwischen dem Equipment gleichmäßig frei zu halten, die richtige Ausleuchtung tut ihr Übriges. Immersion ist im Theater insofern schwieriger zu erreichen als im Kino, dass die Vierte Wand von vornherein durchbrochen ist, das Live-Erlebnis lässt eine gewisse Interaktivität entstehen.

Den prätentiösen Mief, der Theater in der Wahrnehmung vieler Menschen oft anhaftet, sucht man im Keller Theatre vergebens. Auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“, wie Schiller den Mikrokosmos Bühne liebevoll umschrieb, mag es keinen so großen Strukturwandel gegeben haben wie seinerzeit auf der Leinwand, doch im Zuge der Gegenbewegung der 60er und 70er Jahre entledigte sich auch dort das Schauspiel vielerorts seiner Ketten, die ihm der Kulturauftrag der Weimarer Republik angelegt hatte. 1958 gegründet, pflegt das Keller Theatre, das einst von den amerikanischen Streitkräften als Teil ihres Unterhaltungsangebots betrieben wurde und nach der Schließung des US-Depots im Jahr 2007 in die Hände eines gemeinnützigen Vereins überging, seit weit über 60 Jahren als ältestes englischsprachiges Theater Deutschlands eine familiäre Nähe und Transparenz, wie man sie in dieser Branche selten erlebt. Im Zuge der vier Produktionen pro Jahr sind Freiwillige gern gesehen und werden mit offenen Armen empfangen, um sich als Bar Helper, Flyerverteiler oder eben hinter und auf der Bühne als Stage Helper, Technikerinnen und Schauspieler hervorzutun. Schnupperkurse, natürlich zum Nulltarif, bieten die Open Helpers` Nights, die in regelmäßigen Abständen stattfinden.

Immer wieder lädt das Keller Theatre auch zu Sonderveranstaltungen und Festivals in die gemütlich-beschaulichen Räumlichkeiten. Ob nun das Krimifest mit u. a. Shows von Agatha Christie (auf die künftig ein Schwerpunkt gelegt werden soll) oder das Festival of Irish Theatre, das 2024 von Zeitgeist Irland 24 als Initiative von Culture Island sowie der irischen Botschaft und dem Kulturamt Gießen zur Förderung der zeitgenössischen irischen Kunst und Kultur ausgetragen wurde: Handgemachtes und nahbares Bühnenwerk genießt seit jeher oberste Priorität. Jenes Irish Festival stellte derKeller-Eigenproduktion „Fingers Crossed“ die Performances eines irischen Gastensembles zur Seite – etwa „The Noble Call“, eine Lesung mit dem großartigen Vinnie McCabe als todkranker Vater im Hospiz in einer Geschichte über Traumabewältigung, oder das Stück „King“ über einen Elvis-Imitator, der von seiner Oma nach deren Held Martin Luther King Jr. benannt wurde. Inhaltlicher Kitt ist nicht nur die Feier der Vielfalt und des Reichtums der irischen Kultur, sondern ganz universell das Verhandeln von Identität.

Als Plattform dafür ist vielleicht nichts dankbarer als die Ausdrucksformen der darstellenden Kunst. Am Freitag öffnet die Kleine Bühne ihre Pforten für die „Lover“-Premiere. Und wer etwas für anspruchsvolles Theater mit viel Liebe zum Detail übrig hat, sollte sich das genauso wenig entgehen lassen wie derjenige, der die vielleicht lustigste John-Wayne-Gedächtnis-Nummer erleben möchte, die je auf Mittelhessens Bühnen dargeboten wurde. You have such taste.

Text: Chris Michels

*Premiere: Freitag, 14.2.
Weitere Aufführungen: 21., 22., 28.2.;  1., 7. und 8.3.
Wo: Kleine Bühne, Bleichstraße 28, 35390 Gießen
Einlass 19 Uhr, Beginn 19:30 Uhr
Normalpreis 14 € (VVK 14,50), Ermäßigt 10 € (VVK 10,50)