Am 15. Dezember 1924 ging am Potsdamer Platz in Berlin die erste Ampel Deutschlands in Betrieb. 100 Jahre später gibt es in Gießen an 80 Kreuzungen Ampelanlagen – doch nicht immer zum Vorteil des Fußgängerverkehrs.
Ampelanlagen (im Behördenjargon LSA = Lichtsignalanlagen) sollten die Verkehrssicherheit erhöhen, dienten und dienen aber oft vorrangig dazu, die Flüssigkeit des Autoverkehrs auf Kosten des Fuß- und Radverkehrs sicherzustellen. Die mengenmäßige Beschränkung von Querungsmöglichkeiten für den Fuß- und Radverkehr zwingt diese hingegen zu häufig nicht akzeptablen Umwegen.
Die Relikte der autogerechten Stadtplanung sind im Innenstadtbereich besonders deutlich zu sehen: am Anlagenring fehlen an 13 (!) Ampelanlagen Querungsmöglichkeiten für den Fußverkehr über mindestens einen der Zufahrtswege. Bekanntestes Beispiel ist der Knotenpunkt Oswaldsgarten, wo die Rodheimer Straße nicht zu Fuß gequert werden darf. Das führt im Extremfall zu dem absurden Ergebnis, dass z. B. Fahrgäste, die mit dem Bus von Biebertal kommen, an der Bushaltestelle Mühlstraße aussteigen und zum Bahnhalt Oswaldsgarten wollen, drei statt nur einer Ampelquerung bewältigen müssen. So dauert eine eigentlich einfache Straßenquerung von 20 Metern Länge bis zu 5 Minuten, wenn man sich ordnungsgemäß an die Grünphasen für den Fußverkehr hält. Wer per Bahn am Oswaldsgarten ankommt und per Leihrad in die Innenstadt fahren will, muss von der Leihstation erst an die Lahn hinunterfahren, dort die Rodheimer Straße unterqueren, zur Lahnstraße hinauf und zurück zur Rodheimer Straße fahren und kann dann erst mit dem Rad den Anlagenring in die Innenstadt queren. Das macht kein Mensch, der „recht bei Sinnen“ ist und schiebt also notgedrungen das Fahrrad über den Gehweg und die Fußgängerampel oder fährt diese Strecke verbotenerweise, um sich 350 Meter Umweg zu sparen, den ihm die städtische Verkehrspolitik zumutet.
Auch an der Marburger Straße fehlt in Höhe Sudetenlandstraße die dritte Ampelquerung zwischen den beiden Supermärkten, gleiches gilt am Ludwigsplatz, am Platz der Deutschen Einheit oder dem John-F-Kennedy-Platz – allesamt wichtige Verkehrsknotenpunkte eben nicht nur für den Auto- und den Radverkehr, sondern auch für Fußgängerinnen und Fußgänger, deren Bedürfnis nach direkten, umwegefreien Verbindungen in der Praxis bis heute hartnäckig ignoriert wird.
Der Verkehrsclub Deutschland hat in den letzten Wochen alle 80 Ampelkreuzungen in Gießen unter die Lupe genommen und kommt zusammenfassend zum Ergebnis, dass derzeit an 66 Ampelzufahrten eine Fußgängerquerung fehlt. Das Problem ist in Politik und Verwaltung seit Jahren bekannt und fast jeder Koalitionsvertrag enthielt die Passage, dass z. B. die fehlende Fußgängerquerung am Oswaldsgarten dringend geschaffen werden solle. Doch weder beim Aufbau des Verkehrsversuchs noch bei dessen Rückbau wurde auch nur an irgendeiner Stelle des Anlagenrings eine dieser fehlenden Fußgängerquerungen hergestellt, wiederholten „Mahnungen“ der Verkehrsverbände ADFC und VCD zum Trotz.
VCD-Vorstand Matthias Oertel kann sich nur an eine einzige Stelle in Gießen erinnern, an der in letzter Zeit im Zuge von Straßensanierungen eine fehlende Ampelquerung realisiert wurde: so gibt es nun immerhin an der Ecke Ludwigstraße/Bleichstraße die bis dahin fehlende vierte Querungsmöglichkeit.
Für den Anlagenring stellt der VCD fest: „Der Rückbau des Verkehrsversuchs auf dem Anlagenring, den wir bedauern, ist aus unserer Sicht jedenfalls erst dann abgeschlossen, wenn auch die fehlenden Querungsmöglichkeiten für den Fußverkehr geschaffen wurden, der in Gießen immer noch stiefmütterlich behandelt wird. Das wäre z. B. an der Ecke Bleichstraße/Südanlage leicht möglich, da es dort eine Ampelphase gibt, in der alle drei Zufahrten gleichzeitig Rot haben und damit auch ein Rundumgrün für Fußverkehr – auch über den dritten „Arm“ – ohne Nachteile für den Kfz-Verkehr möglich wäre. Laut Stadtverwaltung sei auch die fehlende Fußgängerquerung über die Rodheimer Straße am Oswaldsgarten schon geprüft worden und sei mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Verkehrsknotens problemlos realisierbar. Doch „passiert ist bis heute nichts“, so der VCD. „Fest steht also: Am Anlagenring wird es erneut Baustellen und neue Ampelschaltungen geben müssen, damit die fehlenden Querungen an den Ampeln endlich realisiert werden, so wie es auch der Verkehrsentwicklungsplan und die StVO vorschreiben.“
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