Das Drama um den gescheiterten Versuch, in Gießen durch ein Netz von Fahrradstraßen mit einem zentralen Verteiler rund um die Innenstadt endlich von der totalen Orientierung auf den klimaschädlichen und mörderischen Autoverkehr wegzukommen, ist inzwischen über ein Jahr her. Dabei war das Projekt einer Fahrradstraße auf den inneren Spuren des Anlagenrings ungewöhnlich gut demokratisch legitimiert durch Bürger*innenantrag und Kommunalwahl und zudem intensiv durchgeplant. Doch allzu viele Widersacher waren der guten Idee Tod. Da war zum einen die beratungsresistente, fachlich aber inkompetente Stadtführung, die durch ihre Fehler alles versiebte und dann den Kopf in den Sand steckte, in den sie zwei Millionen Euro gesetzt hatte. Dann trat eine Autolobby aus Behörden, Richter*innen, Polizeiführung, CDU und anderen Parteien sowie Geschäften der Innenstadt an und heizte mit einer Menge von Horrorgeschichten, viele davon frei erfunden, die Stimmung an. Aus dieser bildete sich ein militanter, auch Verletzungen oder gar Tote in Kauf nehmender Automob, der illegal in die entstandenen Fahrradstraßen einfuhr und Radfahrer*innen jagte – was wiederum die inkompetente und nun auch mutlose Stadtführung zu einem kompletten Rückzug aus diesem und später auch weiteren Verkehrswendeprojekten veranlasste. Seitdem werden zusammenhanglos Farbklekse auf Gießens Kreuzungen verteilt – ein Hohn angesichts der notwendigen 81%igen Reduktion des Autoverkehrs laut einer Klimastudie, die die Stadt Gießen selbst in Hinblick auf ihren nach wie vor geltenden Beschluss, 2035 klimaneutral zu sein, erstellen ließ.
Das Ende des hoffnungsvollen Anfangs einer Verkehrswende setzten Versager, geistige Brandstifter und ihre Gehilfen. Doch bestraft werden sollen ausgerechnet diejenigen, die die Idee vor Jahren geboren, genau geplant und über phantasievolle Aktionen und den Bürger*innenantrag durchsetzten. “Auto-Deutschland triverkehrstt nach“, sagen die beiden Angeklagten, die nur angeklagt sind, am 27. Januar 2022 mit einer spektakulären Aktion die inneren Spuren zeitweise und symbolisch in eine Fahrradstraße umgewandelt zu haben Sie erklommen die damals noch vorhandene Schilderbrücke über der Südanlage und umgestalteten sie passend zur Fahrradstraße um. Als daraufhin die Straße gesperrt wurde, obwohl die beiden Aktivisten gesichert waren und sich stets oberhalb der Schilderbrücke befanden, eroberten weitere Personen tanzend die Fahrbahn.
Der Zeitpunkt der Aktion lag deutlich über ein halbes Jahr nach dem Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, die Fahrradstraße einzurichten – und damit nach dem Zeitpunkt, wann sie hätte eingerichtet werden sollen. Zum Zeitpunkt der Aktion gab es auch keine Hinweise, dass die Stadt dem Beschluss nachkommen würde. Mit der Aktion forderten die Aktivisten, den Beschluss endlich umzusetzen. Der Impuls durch die Aktion und der dortigen Ankündigung einer noch größeren Aktion am 14. Mai 2022 setzte den Planungsvorgang für die Fahrradstraße neu in Gang, bis diese schließlich ab Juni 2023 auch tatsächlich eingerichtet, aber kurz danach wieder abgerissen wurde.
„Die Fahrradstraße war für die Klimaziele Gießens notwendig – und wäre es auch heute noch“, sagen die Aktivisten, die nun für ihre Aktion am Dienstag, den 29.10., ab 9 Uhr vor dem Amtsgericht Gießen angeklagt sind. „Die Justiz, die schon beim Ausbremsen der Verkehrswende eine unrühmliche Rolle spielte, will jetzt auch noch diejenigen bestrafen, die das Projekt damals voranbrachten – deutlicher lässt sich das Desinteresse an Klimaschutz und demokratischen Beschlüssen kaum zeigen.“
Im Vorfeld des Gerichtsprozesses wollen die Aktivisten und ihre Unterstützer*innen an die Fahrradstraße auf dem Anlagenring erinnern – und laden dazu alle ein, die noch einmal zeigen wollen, dass die Idee gut war. So soll die Aktion am Montag, den 28.10., um ab 13.30 Uhr Uhr am gleichen Ort unter dem Motto “Die Fahrradstraße war super! Farbklekse auf Kreuzungen sind kein Klimaschutz und keine Verkehrswende! Kein Nachtreten gegen Verkehrswende-Aktivisten!” nachgestellt werden. Die Demonstration mit einer einstündigen Kletter- und Transpiaktion sowie dem Tanz auf der Straße ist inzwischen bei der Stadt angemeldet. Weitere Aktionen sollen folgen, sollte die Stadt weiterhin auf die Verkehrswendebremse und die Justiz auf das Repressionsgaspedal treten. „Statt sich in der Stadt auf Kleinscheiß zu beschränken und in der Umgebung sogar neue Straßen zu bauen, braucht es einen echten Wandel, der große und mutige Veränderungen braucht.“
Links zur damaligen Aktion: https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/giessener-verkehrsversuch-verzoegert-sich-weiter-aktivisten-stellen-stadt-ultimatum-91259922.html und https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/ultimatum-an-die-stadt-91262205.html
Hinweis: Am gleichen Tag zur gleichen Uhrzeit auf dem gleichen Stockwerk im gleichen Amtsgericht Gießen findet ein Strafprozess gegen Aktive der Letzten Generation statt, die sich in Gießen mit Anklebeaktionen für mehr Klimaschutz einsetzten. Vor Prozessbeginn gibt es eine gemeinsame Mahnwache am Eingang des Amtsgerichts.
Die Links im obigen Text führen zur Berichten in der Vorphase. Die Aktionsberichte finden sich unter https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/nach-dem-ultimatum-die-blockade-91265110.html, https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/giessen-aktivisten-klima-suedanlage-ampel-gesperrt-polizei-feuerwehr-update-27-01-2022-91263485.html und https://www.ffh.de/nachrichten/hessen/mittelhessen/295497-aktivisten-klettern-auf-ampelanlage-in-giessen.html.