In der zehnten Klasse ist er für viele nicht mehr weit weg: Der Führerschein. Wer ihn machen möchte, der kommt um die dazugehörige Erste-Hilfe-Schulung nicht herum. Doch es gibt auch einen Kurs für die Letzte Hilfe, die Begleitung im Sterbeprozess. Und genau den haben erstmals Schülerinnen und Schüler der zehnten Klassen der Gießener Ostschule absolviert. Eine von ihnen ist Lilli Marie Deisinger. „Nachdem meine Omi gestorben war, hat mich das Thema Tod viel beschäftigt“, erzählt die 16-Jährige. „Ich wollte wissen, ob wir alles richtig gemacht haben an ihrem Lebensende.“
Vier Stunden lang haben sich die jungen Menschen mit den Themen Sterben als Teil des Lebens, Vorsorgen und Entscheiden, Leiden lindern und Abschied nehmen auseinandergesetzt. Unterstützt wurden sie dabei von Juliane Lang, Kerstin Temme-Groth, Eva Becker und Stephan Eppler von der Gesellschaft für diakonische Altenhilfe Gießen und Linden. „Jeder hat schon einmal einen Verlust erlebt“, weiß Juliane Lang, die die Stabsstelle Palliative Geriatrie im Altenhilfezentrum Johannesstift innehat. Dabei gehe es nicht nur um den Tod der Großeltern oder den Abschied von einem geliebten Haustier. Auch Liebeskummer könne sich ähnlich anfühlen wie der Schmerz bei einem Trauerfall.
Mit dem Letzte-Hilfe-Kurs sollen sowohl Berührungsängste vor dem Thema Tod genommen als auch praktische Tipps gegeben werden, wie Leiden gelindert werden können. „Viele Menschen denken, sie müssten es alleine schaffen. Aber dem ist nicht so“, betont Juliane Lang. Wie wichtig ein Netzwerk um den Sterbenden herum ist, haben die Jugendlichen auch ganz bildlich mithilfe eines Schwungtuchs gelernt: Genauso wie schon eine kleine Regung des Stoffs den Ball darauf in Bewegung setzt, können auch scheinbar winzige Unterstützungen große Auswirkungen auf den Sterbenden und dessen Wohlbefinden haben. „Man sieht erstmal nur, was der sterbende Mensch macht. Aber da passiert noch viel mehr“, verdeutlicht Lilli Marie Deisinger.
Das Thema „Vorsorge und Entscheidung“ bietet die Möglichkeit, sich mit den eigenen Wünschen auseinanderzusetzen. „Bei Minderjährigen entscheiden im Fall der Fälle die Eltern. Aber es ist gut, wenn man darüber gesprochen hat“, weiß Juliane Lang. Die Gerontologin hofft, dass der Letzte-Hilfe-Kurs für einen Schneeballeffekt sorgt, Eltern zum Beispiel die eigene Patientenverfügung mit den Kindern besprechen. „Man muss keine Angst vor dem Tod haben“, findet Lilli Marie Deisinger. Und das nicht nur, weil die Palliativversorgung die Lebensqualität bis zum Schluss verbessern kann: „Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung davon, wie er gerne sterben möchte. Und jeder Mensch kann sich auch sein eigenes Paradies vorstellen. Der schönste Tod wäre, einfach ohne Schmerzen einzuschlafen und dann in dieses Paradies zu kommen.“
Der Letzte-Hilfe-Kurs an der Ostschule in Kooperation mit dem Gießener Johannesstift und dem Seniorenzentrum Linden ist in den Religions- und Ethikunterricht eingebettet und soll künftig stets im zehnten Schuljahr stattfinden. Die Eltern werden vorab über das Thema informiert, so dass eine Teilnahme zuvor abgewogen werden kann – etwa, wenn sich ein Jugendlicher in einer akuten Trauerphase befindet. Für Lilli Marie Deisinger war das Gelernte auch im Rückblick hilfreich: „Der Kurs gibt Sicherheit. Ich weiß jetzt, dass wir bei meiner Omi alles richtig gemacht haben.“