Auf Einladung des ADFC Gießen nahmen Mitglieder, verkehrspolitisch Interessierte und Aktive zusammen mit Verantwortlichen aus Stadt und Landkreis Gießen an einer verkehrspolitischen Radtour teil, wie sie der ADFC regelmäßig durchführt.
Mit dabei Bürgermeister Alexander Wright (Stadt Gießen) und Dezernent Christian Zuckermann (Landkreis). Diesmal ging es von Gießen nach Fernwald mit seinen Ortsteilen Steinbach und Annerod und über Rödgen zurück in die Gießener Innenstadt. Die Strecke hatte Tourleiter Simon Becker mit Bedacht gewählt, um „die verkehrsrechtlichen- als auch die baulichen Gegebenheiten auf der Strecke“ zu betrachten: „Wo kam es zu Verbesserungen? Wo hakt es? Wie können Lösungen aussehen? Und was ist geplant?“
Im Ergebnis konnten kleinere Fortschritte, vor allem aber auch die teils doch erheblichen Schwachstellen im Radverkehrsnetz zwischen Gießen und seinem Umland aufgezeigt werden. Die teilnehmenden Verkehrspolitiker zeigten sich den Hinweisen der Radlerinnen und Radler gegenüber aufgeschlossen und konnten das eine oder andere Mal auf bereits bestehende Planungen und Aktivitäten hinweisen.
Positiv bemerkt wurde in Gießen z.B. die Ausweitung der Tempo-30–Strecke von der Grünberger Straße über den Ludwigsplatz bis zum Berliner Platz. „Schluss mit lustig“ war es dann aber für den Tross bei dem Versuch, gemeinsam die Vogelsbergbahn zwischen Waldstadion und Anneröder Siedlung zu queren: Weder mit dem mitgeführten Lastenrad des Verleih-Projekts ALLRad noch mit dem Liegerad von ADFC-Mitglied Hans Wichert konnten die eng gesetzten Schutzgitter passiert werden. Beide mussten den weiten Umweg über den Kugelberg nehmen, um später wieder zur Gruppe zu stoßen. Die innerstädtische Querverbindung von der Grünberger Straße zur Anneröder Siedlung, die nicht nur Siedlungsbereiche – sondern auch wichtige Freizeitziele in Gießen miteinander verbindet, fiel im Praxistest kläglich durch, zumal die Zunahme von Lastenrädern im Stadtbild ja nicht zu übersehen ist.
Auch überörtlich kommt dem bedarfsgerechten Umbau dieses Bahnübergangs gleich mehrfach Bedeutung zu: Aus der Anneröder Siedlung führt der alte „Butterweg“, das Europaviertel querend, meist auf wassergebundener Decke schnurgerade nach Annerod und stellt die direkteste und sicherste Verbindung in den Fernwalder Ortsteil dar. Die Zufahrt ist in der Anneröder Siedlung jedoch schwer auffindbar und verkehrstechnisch nicht entsprechend ausgebaut. Der „Butterweg“ müsste zudem im Waldstück so befestigt werden, dass er auch bei Nässe ohne Einschränkungen alltagstauglich befahrbar bleibt.
Nun ging es aber stattdessen unter dem Gießener Ring hindurch, vorbei an der „Automeile“ auf dem Radweg an der B 457 Richtung Steinbach. Es war wohl das schöne Wetter, das manche den Lärm des Feierabendverkehrs auf der Bundesstraße ertragen ließ. Tourleiter Simon Becker hatte „an nichts gespart“ und konnte eindrücklich vorführen, wie wenig früher in der Verkehrsplanung auf den Radverkehr geachtet wurde. Zwischen Anneröder Siedlung und dem südlichen Ende der Automeile erwarten Radfahrende acht (!) Ampeln an den drei Kreuzungen, oft muss Grün per Drucktaster angefordert werden, teils um kurz darauf auf kleinen Verkehrsinseln erneut anhalten zu müssen, auf der eine größere Gruppe nicht einmal ausreichend Platz findet.
Besonders deutlich wurde im weiteren Verlauf der Tour die Fixierung der Verkehrspolitik auf die Flüssigkeit der Autoverkehrs schließlich bei dem Versuch, die Bundesstraße 49 von Annerod nach Rödgen zu Fuß bzw. mit dem Rad zu queren. Dies war für die Gruppe im fließenden Berufsverkehr nahezu unmöglich. Die B 49, die an dieser Stelle insbesondere auf Anneröder Seite aus der Innenkurve praktisch nicht einsehbar ist, hat auch wegen der hohen Geschwindigkeiten, mit denen die Autos hier fahren, eine durch nichts geminderte Trennwirkung. Den Einwohnerinnen und Einwohnern der beiden Orte, aber auch Radwanderinnen und -wanderern, wird weder hier noch an anderer Stelle in Siedlungsnähe ein „Angebot“ gemacht, die Straße sicher zu queren, nicht einmal eine Geschwindigkeitsbeschränkung existiert hier. Dabei hatte diese Verbindung, die in Annerod noch in dem Straßennamen Rödgener Straße zum Ausdruck kommt, früher einige – auch wirtschaftliche – Bedeutung. Eine Mutter, die in Rödgen wohnt, war in Annerod zu der Gruppe gestoßen. Sie schilderte ihre persönliche Betroffenheit – auch im Hinblick auf ihre Kinder – und informierte über geschichtliche Hintergründe. Sie wies auch darauf hin, dass sich der Ortsbeirat Rödgen bereits für eine Querungshilfe ausgesprochen habe. Dem anwesenden Kreisdezernenten Christian Zuckermann war das Thema geläufig. Er unterstützt das Anliegen, verwies aber auch darauf, dass bisher noch nicht alle politischen Akteure überzeugt werden konnten. Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tour stieß dies auf Unverständnis. Wie wichtig die Verbindung für die Menschen aus Annerod ist, belegt auch die Verkehrsmengenkarte vom Stadtradeln 2023: Demnach zählt die Radroute nach Rödgen zu den drei am stärksten genutzte Radverbindungen des Ortes Annerod. Stärker befahren sind nur die Strecken nach Gießen und Steinbach.
Der ADFC setzt darauf, dass die angesprochenen Kritikpunkte von Politik und Verwaltung aufgegriffen werden. Hierzu mag beitragen, dass auch die mitradelnden Radverkehrsbeauftragten teils fleißig mitgeschrieben haben.