Es war im Oktober und November 2018: Der erste Verkehrsaktionstag auf der Südanlage in Gießen und die damit verbundene Veröffentlichung des Entwurfs eines umfassenden Verkehrswendeplans eröffnete einen Reigen von Aktivitäten für einen Wandel in der Stadtgestaltung – weg vom überall dominierenden Auto hin zu einer Stadt voller Lebensqualität, mit autofreien Zonen, einem Netz von Fahrradstraßen und einem starken ÖPNV, bei dem Straßenbahnen das Rückgrat bilden sollten. Im gleichen Zeitraum fanden entlang des Wiesecktales drei Veranstaltungen statt, auf denen ein für die Gemeinden Buseck, Reiskirchen und Grünberg entwickelter Verkehrswendeplan vorgestellt wurde. Daraufhin gründeten sich in Buseck sofort und in Grünberg einige Zeit später entsprechende Initiativen. Inzwischen sind weitere in Lollar, im oberen Lumdatal, in Linden und Pohlheim hinzugekommen, für neu der 16 Kommunen im Kreis liegen Verkehrswendepläne vor. Die Initiativen bringen die Vorschläge seit Jahren in die Gemeindegremien ein und werben für sie mit teils spektakulären Aktionen in der Öffentlichkeit. Doch die praktische Bilanz ist ernüchternd. In einer zusammenfassenden Rückschau von Verkehrswende-Aktiven aus dem Umfeld der Projektwerkstatt in Saasen, die Initiativen mit fachlichem Rat und aus der bundesweiten Initiative Mobilitätskultur stammenden Zuschüssen für die Verkehrswendepläne und -aktionen unterstützt, heißt es:
„Es dominieren schöne Worte und Ankündigungen. Doch in der Realität passiert wenig bis nichts:
- In den meisten Gemeinden des Landkreises Gießen ist in den vergangenen Jahren gar nichts geschehen, um die Sicherheit von Fußgänger*innen (zB vor Kindergärten und Grundschulen) zu erhöhen, gute Fahrradverbindungen zu schaffen oder den ÖPNV zu stärken.
- In vielen Gemeinden gibt es sogar Parlamentsbeschlüsse für konkrete Maßnahmen, aber Verwaltung und vor allem einige Bürgermeister verweigern die Umsetzung, was auch Fragen nach deren Demokratieverständnis aufwirft.
- Das zeigt sich auch im Umgang mit Formen der Bürger*innenbeteiligung. So werden Initiativen bei Gesprächswünschen monate- bis jahrelang hingehalten oder interfraktionelle Gremien mit Beteiligung interessierter Einwohner*innen geschaffen, die sich aber totlaufen oder deren Ergebnisse nicht beachtet werden. Es entsteht der Eindruck von Alibimaßnahmen. Drastische Beispiele sind die Arbeitsgruppe zu Radwegen in Buseck oder der Umgang mit den eindrucksvoll demokratisch legitimierten Fahrradstraßen (das es ein Versuch wurde, war schon eine Rückwärtsbewegung dann der Politik) sowie der aktuell laufenden Einwohner*innenpetition in Gießen.
- In Wahlkämpfen und beim Stadtradeln der Jahre 2022 und 2023, an denen sich Verkehrswende-Initiativen engagiert beteiligten, wurden für von denen eingebrachte Ideen Versprechungen gemacht, die nicht eingelöst wurden. Es entstand der deutliche Eindruck, dass gar kein Wille zum Handeln vorhanden ist.
- In einigen Fällen sind die ohnehin viel zu geringen Maßnahmen sogar wieder zurückgenommen worden, z.B. der Verleih von Lastenrädern in Buseck (und natürlich die Fahrradstraßen in Gießen).
- Die Reaktivierung von Bahnlinien als Beitrag zur Verkehrswende scheint ebenfalls vorrangig der Gegenstand von Versprechungen zu sein. Nur wenn wirtschaftliche Interessen entstehen, bewegt sich die Politik.
- Gleiches gilt für die notwendige Stärkung vorhandener Bahnlinien mit neuen Haltepunkten und zusätzlichen zweigleisigen Abschnitten, um einen besseren Takt zu kreiieren. Kommunale, Landes- und Bundespolitik schieben die notwendigen Maßnahmen ständig vor sich her.
- Von Beginn an schlugen die Verkehrswende-Initiativen vor, beim ÖPNV auf das leistungsstärkste aller Verkehrssysteme zu setzen – der Zweisystembahn, die Stadt und Land verbinden kann (RegioTram). Keine einzige gesellschaftliche Gruppe hat das Konzept in Frage gestellt, fast alle fanden es gut. Passiert ist jedoch bislang nichts. Wertvolle Zeit vergeht.
- In dieser Zeit erzeugen Politik und die von ihnen hofierte Wirtschaft durch ständig neue oder wachsende Gewerbegebiete neue und vermehrte Verkehrsflüsse, die dann vor allem in neuen PKW- und LKW-Verkehr münden. Die Krönung sind dann gigantische neue Straßenbauprojekte wie der Ausbau der A5 und der Neubau der B49 in den Bereichen Reiskirchen und Grünberg.“
Das Fazit der Verkehrswende-Aktiven: „Klimaschutz und Verkehrswende sind fast überall reine Lippenbekenntnisse. Es gab nur eine einzige relevante Maßnahme in den fünf Jahren: die Fahrradstraße auf dem Gießener Anlagenring. Auch die hätte das nötige Ziel der Reduzierung des Autoanteils von 81 auf 20 Prozent, wie es die Stadt als Lippenbekenntnis selbst formuliert, nur als Anfang von mehr erreichen. Doch leider war selbst der kleine Anfang schon zu viel und die jetzt entstandene Lage sogar ein Rückschritt.
Daher gilt: Es braucht eine komplett andere Einstellung in der Politik – mehr Handeln, weniger Aussitzen. Mehr Weitsicht und echte Bürger*innenbeteiligung. Was im Moment läuft, ist eine Mischung aus Versagen und Verarschung.“