Kulturkampf “Verkehrswende” – in Gießen eskaliert die Diskussion
Seit 10 Tagen steht in der Gießener Landgrafenstraße das Verkehrswendecamp. Es ist nicht irgendeines der vielen Camps für Klimaschutz und Verkehrswende, sondern steht auf dem Hotspot einer aktuell erbittert ausgetragenen Auseinandersetzung um die selbst nach Aussagen von Besucher*innen aus Karlsruhe und Kopenhagen beeindruckendste Fahrradstraße. Von Anfang an hatte die viele Besonderheiten:
- Sie wurde auf DER Hauptverkehrsstraße rund um die Gießener Innenstadt errichtet und bedeutete daher eine tatsächliche und relevante Umverteilung von Verkehrsfläche.
- Sie war das Ergebnis eines von unabhängigen Verkehrswende-Initiativen organisierten Bürger*innenantrages auf Basis eines ebenfalls von diesen für die gesamte Stadt entwickelten Verkehrswendeplans (giessen-autofrei.siehe.website).
- Sie war nach der Entscheidung über den Bürger*innenantrag Hauptthema des Kommunalwahlkampfes mit einem eindrucksvollen Ergebnis für alle Parteien, die sich hinter den Vorschlag der Initiativen stellten.
- Sie bietet die gleichen Breiten und den Komfort von Autostraßen – mit Abbiegespuren und automatischer Erfassung für Ampelschaltungen. Es ist ein phantastisches Gefühl für Radler*innen, Rollstuhlfahrer*innen und alle, die die Fahrradstraßen nutzen.
- Sie sollte der Beginn einer großen Umverteilung von Verkehrsflächen in der Stadt sein zugunsten von Fuß, Fahrrad und ÖPNV.
Auch nach den entsprechenden Beschlüssen brauchte es weiterer spektakulärer Aktionen, um die Verwaltung tatsächlich zur Umsetzung zu bewegen. Im Jahr 2020 beauftragte die Verwaltung ein Planungsbüro mit der Prüfung verschiedener Varianten. Das Planungsbüro bestätigte die Vorschläge der Verkehrswende-Initiativen als beste Variante.
- Im Juni 2023 begann der Umbau. Die Baustelle war gut durchgeplant, das Personal verzichtete teilweise auf Urlaub, stemmte Überstunden und schaffte es binnen drei Monaten, fast den gesamten Anlagenring umzubauen.
- Während des Umbaus mussten Baustellen eingerichtet werden, die vor allem an den Kreuzungen, an denen die Ampelanlagen ausgetauscht wurden, für ein bis drei Tage zu Staus führten.
- Den Baustellenbeginn nutzte die CDU für eine bemerkenswerte Hetzkampagne mit Unterschriftensammlung, die vor allem auf zwei Lügen basierte: Alle Zufahrten zur Innenstadt sollten gesperrt werden und die Baumaßnahme würde mindestens viermal so teuer werden wie geplant. Binnen kürzester Zeit entstand in der Stadt eine Hassstimmung gegen Verkehrswende und auch ganz direkt gegen Radfahrer*innen, die aus Autos heraus angepöbelt, angespuckt oder mit dem Auto geschnitten wurden.
- Wenig später erklärten Gerichte die Umverteilung von bisher für Autos genutzten Flächen für andere Verkehrsteilnehmer*innen für rechtswidrig, ohne dass irgendwelche Personen in diese Richtung geklagt hätten. Das gesamte Verfahren hatte ein deutliche “Geschmäckle” von justizinternen Seilschaften mit Parteibuch (siehe Anhang).
- Aufgrund der Hetze und Justizentscheidungen knickte die grün-rot-rote Koalition ein und verkündete das Ende des ambitionierten Projektes. Bevor es ganz fertig gebaut und eröffnet war, sollte der Rückbau beginnen und die 1,7 Mio. Euro Investition verschenkt werden.
- Die Verkehrswende-Initiativen reagierten mit einem Protestcamp auf der ersten wieder eröffneten Zufahrt für Autos und starteten einen neuen Bürger*innenantrag (neu: Einwohner*innenpetition), der in Rekordzeit von sechs Stunden das nötige Quorum erreichte und inzwischen der mit Abstand erfolgreichste Antrag dieser Art in Gießen ist. Doch die Stadtregierung blieb stur und verkündete entschieden: Die Fahrradstraße (welche nachwievor im Koalitionsvertrag steht) kommt weg!
- Seitdem eskaliert die Lage in der Stadt. Fahrradfahrende werden an beliebigen Stellen beschimpft, Spruchbänder am Protestcamp fielen Brandstiftung zum Opfer, am Dienstagnachmittag wurde der sich die Situation anschauende stellv. Parteivorsitzende von Die Linke, Lorenz Gösta Beutin, von einem vorbeifahrenden Auto beschimpft und bespuckt. Am gleichen Tag wurde das erste Fahrrad von einem illegal auf die Fahrradstraße einfahrenden Auto überfahren – die Person konnte sich gerade noch selbst mit einem Sprung zu Seite retten. Am Mittwoch gab das Ordnungsamt der Stadt bekannt, dass das Protestcamp aus Angst vor Anschlägen mit fahrenden Autos mit Betonblöcken beidseitig abgesichert wird.
- Gleichzeitig verkündete die Stadtregierung, dass sie die Südanlage (ein Viertel der Fahrradstraße) wieder für Autos freigibt und wegen der großen Gefahren (!) nun die Radfahrenden von dort umleiten will. Durch die Freigabe werden sich große Mengen Autos auf den inneren Spuren befinden, die dann einfach nur geradeaus weiterfahren müssen, um die weiteren Teile der Fahrradstraße endgültig und massenweise zu erobern (wenn auch (zunächst) illegal). Das die Einwohner*innenpetition genau dazu den Gegenantrag stellt und diese damit einfach ignoriert und faktisch überflüssig gemacht wird, zeigt neben der Pro-Auto-Position auch, dass das Gerede von Beteiligung nichts als heiße Luft ist.
Die Stadt Gießen steht stellvertretend für die Verkehrswendedebatte überall. Veränderungen werden nur akzeptiert, wenn es Autos nicht oder nur wenig einschränkt. Viele NGOs weichen dem Gegenwind aus, in dem sie Neubauten für Fahrräder statt Umverteilung fordern – aber damit zum einen die Flächenversiegelung und zum anderen die freie Fahrt für Autos fördern. Die Verkehrswende-Aktiven haben einen kompletten Verkehrswendeplan entwickelt und den Beginn der Umsetzung “von unten” mit spektakulären Aktionen durchgesetzt. Das jähe Ende zeigt, wie massiv Autodeutschland verteidigt wird, wenn es ans Eingemachte geht.
https://anlagenring.siehe.website
Danke fgür die Einstellung des informativen Beitrags.
Kurz zu folgenden Passage:
“(….) Die Stadt Gießen steht stellvertretend für die Verkehrswendedebatte überall. Veränderungen werden nur akzeptiert, wenn es Autos nicht oder nur wenig einschränkt. Viele NGOs weichen dem Gegenwind aus, in dem sie Neubauten für Fahrräder statt Umverteilung fordern – (….) Das jähe Ende zeigt, wie massiv Autodeutschland verteidigt wird, wenn es ans Eingemachte geht. (….)”
Ich denke diese Zusammenfasung ist zutreffend. Aber was ist die Alternative zum überwiegend herrschenden Opportunismus der bürgerlichen gesellschaftlichen Gruppen? Natürlich gibt es die “auf dem Papier”. Aber in der Realität sind die politischen Kräfte, welche konsequenter Denken und Handeln marginalisiert.
Was aber bleibt, ist die Hoffnung, dass die Bürgerlichen an dem praktischen Beispiel erkennen, dass es so nicht weiter gehen kann.
Nachträge, die erste: Mehrere Unfälle durch illegal in der Fahrradstraße fahrende Autos (nur durch Glück oder beherztes Beiseitespringen der Radler*innen noch keine Verletzten oder Toten) ++ Eier- und Tomatenwürfe aufs Protestcamp ++ Spuckattacke von Autofahrenden auf Fußgänger ++ Autofahrer vermöbeln Radfahrer (einfach mal so und völlig unabhängig vom Protestcamp auf einem Supermarktparkplatz) ++ Stadt stellt Terroranschlagssicherungen (Betonblöcke) um das Camp