Der Kreisverband Gießen des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) kritisiert: Der Beschluss, mit dem der VGH Hessen den Verkehrsversuch auf dem Anlagenring in Gießen als rechtwidrig einstuft, führt ungeachtet seiner rechtlichen Begründung zu einem absurden, “aus der Zeit gefallenen” Ergebnis: selbst zeitlich und lokal begrenzte Versuche, Mobilität sicher, klimaneutral und ressourcenschonend zu gestalten, wären nach der gerichtlichen Interpretation des Straßenverkehrsrechts nicht möglich. Dabei sei besonders problematisch, so der VCD, dass der VGH sich nicht an der üblichen Rechtsprechung zur Gefahrenlage orientiere und die “einfache Gefahrenlage” selbst dann nicht anerkenne, wenn es – wie im Fall des Gießener Anlagenrings – um die sichere Abwicklung des Radverkehrs an einer Hauptverkehrsstraße gehe, für die eine Fahrradstraße eine besonders gut geeignete Maßnahme sei. Hierzu bedürfe es auch keineswegs des Nachweises besonders hoher Unfallzahlen, die am Anlagenring aber nach Ansicht des VCD sogar vorliegen.
Der VCD fordert, dass die Stadt die vom VGH aufgeworfenen rechtlichen Fragen für sich schnellstmöglich bewertet mit dem Ziel, trotz des VGH-Beschlusses den Anlagenring für alle Radfahrenden zu einer sicheren Radverbindung zu machen, denn dem Anlagenring komme als Tangentialverbindung für das noch weiter zu entwickelnde Gießener Radverkehrsnetz eine zentrale Bedeutung zu. Beispielhaft sei hier die Verbindung von der Ostanlage bzw. dem Berliner Platz zum Bahnhof genannt. Die Vernetzung von Rad- und Bahnverkehr wäre hier über den Anlagenring und Weiterführung des Radnetzes zum Bahnhof optimal und könnte unter anderem von vielen Studierenden von THM und Universität genutzt werden. Der VCD verweist zudem auf den aktuellen Radverkehrsentwicklungsplan, den der VGH in seinem Beschluss gar nicht berücksichtigt habe. Im Radverkehrsentwicklungsplan heißt es: „Der Anlagenring, der in generalisierter Form einen geschlossenen Kreis bildet, dient als Verteilelement für Fahrten, die ungefähr maximal im äußeren Bogen eines Viertelkreis-Segmentes stattfinden, das heißt, beispielsweise von der Frankfurter Straße zur Rodheimer Straße, von der Marburger Straße zur Moltkestraße oder von der Wiesenstraße zum Berliner Platz oder einer der nachfolgendenden Einmündungen bis zur Frankfurter Straße.“ Auch und insbesondere für Kinder und Familien ist der Anlagenring ohne die nun versuchsweise eingerichtete Fahrradstraße alles andere als sicher. Es ist nicht akzeptabel, dass dies im Interesse eines ungehinderten Autoverkehrs so bleibt.
Der VCD weist außerdem darauf hin, dass sich das gerichtliche Eilverfahren nur auf drei kürzere Straßenabschnitte abseits des Anlagenrings bezog und dass in der Hauptsache noch gar nicht entschieden sei. Folglich seien die rechtlichen Möglichkeiten überhaupt nicht ausgeschöpft, denn die Stadt könne ihre Begründung zum eigentlichen Verkehrsversuch weiterhin nachbessern, was im Hauptsacheverfahren oder bei weiteren Eilverfahren durchaus noch zur rechtssicheren Durchführung des Verkehrsversuchs führen könne. Viele Abwägungen, die nach Mutmaßungen der Gerichte nicht durchgeführt seien, habe die Stadtverwaltung nach Ansicht des VCD durchaus gedanklich vollzogen, nur möglicherweise nicht ausreichend dokumentiert, was sich aber nachholen lasse. Würde der VGH-Beschluss aus dem Eilverfahren hingegen “so stehen bleiben”, wäre auch ungewiss, ob die von Bürgermeister Wright als Alternative angedachten Radfahrstreifen oder andere Maßnahmen auf dem Anlagenring von den Gerichten als rechtlich zulässig bewertet würden. Rechtssicherheit kann und muss laut VCD auch hierfür durch Nachbesserung der Begründung des Verkehrsversuchs und Durchführung des Hauptsacheverfahrens geschaffen werden.
Der VCD sieht daher die nun ins Auge gefasste Aufgabe des Verkehrsversuchs durch die politisch Verantwortlichen in der Stadt Gießen als vorschnell und unnötig an. So zu reagieren käme einer “Kapitulation” und der Fortsetzung der seit der Nachkriegszeit einseitig auf das Auto ausgerichteten Verkehrsorganisation gleich. Auch finanziell wäre der Rückbau die schlechteste aller Lösungen, dabei nicht einmal rechtlich zwingend! Die Gießener Regierungskoalition “schulde” denen, die eine zukunftsorientierte und nachhaltige Mobilität gewählt haben, vor allem aber den nachfolgenden Generationen, dass sie sich weiterhin mit aller Kraft für dieses Ziel einsetzt.
Ergänzung meines obigen Kommentars: Platz sichern ist gelungen. Fast 6 Stunden dauerte die Sitzung. Habe versucht die Fakten mitzuschreiben. Das ist deutlich mehr als was in der Lokalpresse steht bzw. stehen kann. Wer ein bestimmte spezielle Frage hat: einfach hier stellen. Vielleicht habe ich dazu etwas auf meine 10 Zettel.
Mich wundert, dass dieser Artikel seit Tagen unkommentiert bleibt. Der Verkehrsversuch ist seit Jahren das (!!!) Aufregerthema innerhalb der Zivilgesellschaft.
Superkurz zum Artikelinhalt. In den letzten Tagen konnte den Lokalzeitungen in einer erfreuichen Ausführlichkeit entnommen werden, wie und warum die “rechtliche Würdigung” so in die Hose ging.
Selbst wenn * der Magistrat / das Stadtparlament trotz der Klatsche aus Kassel eine gute rechtliche Chance für die Weiterbetreibung des Hauptverfahrens sieht, gehe ich nicht davon aus, dass das politisch (also hier nicht rechtlich gesehen) durchsetzbar ist.
Denn – so der Sachstand September 2023 – bei der Vorbereitung (und jetzt dessen Abruchs) ist eine horrende große Geldsumme sinnlos verpulvert worden. Zwar werden in der Öffentlichkeit dafür sehr unterschiedliche Zahlen genannt (bis zu 2 Millionen Euro) – ich gehe von 1,0 bis 1,5 Millionen aus. Ob das jetzt Hunderttausend mehr oder weniger sind finde ich dabei völlig uninteressant.
Bekanntlich (ich spare mir Details) ist Giessen seit Jahren so gut wie Pleite. Oder anders rum: sollte irgendwann in ein paar Monaten / paar Jahren ein Gericht grünes Licht geben, es ist bzw. wird schlicht und einfach kein Geld für einen zweiten Anlauf im Stadtsäckel sein.
((Nicht zuletzt, weil die Massenverarmung im Moment spürbar an Geschwindigkeit zunimmt und folgerichtig auch die Kommunen in die Pflicht genommen werden Sozialleistungen aller Art den Abgehängten zu gewähren.))
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich glaube, dass ich mit meiner Ansicht, dass die Giessener Innenstadt wegen der sich immer krasser zeigenden Klimakatastrophe bei uns autofrei werden muss. Natürlich wäre das nur “Kleinvieh macht nur Kleinmist” aber es wäre ein guter Anfang. Ich bin für den Verkehrsversuch als einen guten Einstieg der Verbannung der Autos aus der Innenstadt.
* Morgen Abend ist im Rathaus eine Sondersitzung zum Thema. Ich versuche einen Platz auf der Tribüne zu bekommen.