Olga Schentscheskaja, geboren 24.08.1933-gestorben 21.11.1944 und Nina Schentscheskaja, der Geburtstag wird nicht genannt. Das Geburtsjahr 1942 ist bekannt. Sie starb am selben Tag wie Olga. Das waren doch noch Kinder, geht mir durch den Kopf. Die beiden Mädchen waren 10 und 2 Jahre alt, hatten den gleichen Familiennamen. Waren sie Geschwister? Durch Zufall stolperte ich über eine kleine Hinweistafel am Friedhof in Naunheim. Darauf stand geschrieben: Gräberfeld für Zwangsarbeiter/innen. Abgebildet waren Namenstafeln mit Geburts- und Sterbedatum. Ich musste diese Tafel einfach weiter lesen. Das Gelesene hat mich so berührt, dass ich auf den Friedhof gegangen bin, um diese Gräber zu suchen. Hinter der Friedhofskapelle entdeckte ich das Gräberfeld. Einige Gräber hatten richtige Grabsteine, andere nur eine Platte, auf der ein Name mit den Daten stand. Auf manchen Platten war nur zu lesen: Unbekannter Ostarbeiter. Die Platten waren teilweise mit Gras bedeckt. Ich fand die Gräber der Mädchen. Ich war so betroffen, dass ich jede Platte abgegangen bin. Ich habe das Gras entfernt, die Platte gesäubert, damit man die Namen wieder lesen kann. Namen von Männern, Frauen und vielen Kindern. Welche Leiden sind hier verscharrt worden?
Verscharrt, ist der richtige Begriff, denn laut einem Rundschreiben der Gestapo vom 18. Dezember 1942 zur Beerdigung von ›Ostarbeitern‹ heißt es:
- »Die Beerdigung eines Ostarbeiters stellt lediglich eine gesundheitspolitische Maßnahme dar, sodass alle Vorbereitungen für die Beerdigung und diese selbst möglichst einfach und unter Vermeidung jeglichen Aufsehens in der Öffentlichkeit vorzunehmen ist.
- Als Begräbnisplatz ist ein Ort an einer entlegenen Stelle des Friedhofs in gebührender Entfernung von deutschen Gräbern auszusuchen.
- Eine Mitwirkung von Geistlichen bei der Beerdigung hat nicht stattzufinden, da die Beerdigung lediglich eine gesundheitspolitische Maßnahme ist. Dementsprechend hat auch das Glockenläuten zu unterbleiben.
- Es ist nicht erwünscht, dass außer etwa vorhandenen Verwandten und Arbeitskameraden andere Personen an der Bestattung teilnehmen.«
Bei diesen Bestattungen sollte auf den Sarg verzichtet werden. Die Körper sollten nur gut mit Teerpappe abgedeckt, und alle an einem Tag gestorbenen Menschen, sollten in einem Grab beigesetzt werden.
Mir stellte sich die Frage, wieso waren es so viele Frauen und Kinder? Im 2. Weltkrieg waren die wehrfähigen/ arbeitsfähigen Männer an der Front. Diese Arbeitskräfte galt es zu ersetzen. Man hat in den besetzten Gebieten, besonders im Osten, nach arbeitsfähigen Menschen gesucht. Diese Menschen wurden verschlepp, Jugendliche oder Kinder, wurden häufig ihren Eltern entrissen. Ab Januar 1942 wurden sie mit Zügen ins Deutsche Reich deportiert. Sie wurden zur Zwangsarbeit in der Industrie und der Landwirtschaft eingesetzt, aber auch die Kirche und Privatpersonen forderten Zwangsarbeiter beim Arbeitsamt an. Sie mussten schwerste, meist gefährliche Arbeit verrichten. Sie durften bei Luftangriffen nicht in die Schutzräume. Für die Unterbringung und Verpflegung war der Arbeitgeber zuständig. Dies natürlich auch unter Einhaltung der Rassenlehre. Die Menschen aus Osteuropa (Russland-Lettland-Estland-Ukraine-Rumänien) wurden schlechter verpflegt als die Menschen aus Polen. Diese wiederum schlechter als die Menschen aus Frankreich, Italien oder Holland. Für die Ostarbeiter gab es selten einen Arzt. Für die Unterbringung wurden geschlossene Barackenlager errichtet, gegenüber den einheimischen Arbeitskräften gab es ein Kontaktverbot. Die Arbeitgeber wurden diesbezüglich auch kontrolliert. Als erste starben die schwächsten, die Kinder. Jeder konnte einen Fremdarbeiter beim Arbeitsamt anfordern. Man musste eine Fremdarbeitergebühr zahlen. Die Menschen wurden verliehen, verkauft. Wer das nicht überlebte, wurde verscharrt. Doch diese Menschen lebten in unserer Nachbarschaft. In industrielastigen Städten, in meinem Beispiel Wetzlar, war zwischen 1941 und 1945 jeder 3. Zivilist ein Zwangsarbeiter. Eine Zahl, die mir so nicht bewusst war. 70 % der Zwangsarbeiter waren ausländische Zivilisten, 16 % Kriegsgefangene und 14 % KZ-Häftlinge. Es gab viele Lager. Laut Lagis, gab es auf dem Betriebsgelände der Firma Wilhelmi in Dorlar ein bewachtes Lager, in dem “Ostarbeiterinnen” untergebracht waren. Die Frauen waren 1942 in das Lager gebracht worden und waren zwischen 16 und 30 Jahre alt. Für die bei der Firma Wilhelmi eingesetzten französischen Kriegsgefangenen wurde von der Firma ein Lager in Atzbach eingerichtet. Bereits seit 1940 setzte der Betrieb französische Kriegsgefangene ein. Von Juni 1942 bis in das Jahr 1945 hinein bestand in Aßlar ein Lager für Zwangsarbeiter. Hier waren nicht nur sowjetische Männer, sondern auch sowjetische Frauen mit ihren Kindern untergebracht. Das Lager, mit rund 200 Personen belegt, befand sich auf dem Betriebsgelände der Firma Berkenhoff & Drebes. Bei dieser Firma mussten die Sowjetbürger, auch die Kinder, arbeiten. Das Lager wird auch als “Ostarbeiterlager (OL) Gustav” bezeichnet. Zwischen dem 21. September 1942 und dem 1. April 1943 betrieb die Burger Eisenwerke GmbH nachweislich ein Lager für Zwangsarbeiter. In diesem waren zunächst 299, später 391 Menschen untergebracht. Die Bauunternehmer Faber & Schnepp brachten die für sie tätigen Zwangsarbeiter, deren Zahl bei rund 60 Personen lag, in einem Lager im Schiffenberger Weg unter. 70 Zwangsarbeiter waren von 1943 bis 1945 in einem Lager im Erdkauter Weg 17 untergebracht. Sie arbeiteten bei der Firma Bänninger, die Granaten herstellte. Das Lager existierte von 1943 bis 1945. Die Firma Heyligenstaedt, die Werkzeugmaschinen für die Rüstung herstellte, unterhielt in der Kaiserallee in Gießen ein Lager für Zwangsarbeiter. Das Lager bestand von 1944 bis 1945. Vom April 1942 bis zum Jahr 1945 gab es noch das Lager ,,Stadt Wetzlar,,in Wetzlar und von 1941 bis 1945 das Lager “Zu den Mühlen”. Die Angaben über die Belegung des Lagers schwanken zwischen 70 und 120 Personen. Die Firma Schunk & Ebe in Heuchelheim unterhielt 1942 und 1943 im Gasthaus Ludwigsburg ein Lager für Zwangsarbeiter. Bis zu 33 Zwangsarbeiter waren hier untergebracht.Danach brachte die Firma, die bei ihr tätigen, mehrheitlich ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in einem Lager auf dem Firmengelände unter. Bis zu 120 Personen lebten hier bis 1945. Viele sollen zusätzlich noch in der örtlichen Landwirtschaft gearbeitet haben, um weitere Lebensmittel zu erhalten. Die Reichsbahn unterhielt im Gießener Aulweg ein Barackenlager. Hier waren zwischen März 1943 und März 1945 bis zu 430 Personen untergebracht. Sie wurden bei der Ausbesserung zerbombter Schienenwege sowie der Reparatur von Waggons eingesetzt, um so Rüstungstransporte zu gewährleisten. Zwischen 1943 und 1945 bestand in Lollar ein Lager für ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, das von der Firma Buderus betrieben wurde. Bis zu 800 Personen waren in dem Lager untergebracht. In dem Lager sollen äußerst schlechte Lebensbedingungen geherrscht haben, sodass vier an Tuberkulose erkrankte “Ostarbeiterinnen” aus dem Lager nach Hadamar “verlegt” und dort vermutlich getötet worden sind. Im Jahr 1944 arbeiteten in Wetzlar 5101 Zwangsarbeiter. Wie viele es in Gießen waren, kann ich nicht sagen. Gegen das Vergessen hat sich in Wetzlar ein Verein stark gemacht. Der Verein ,, Wetzlar Erinnert.e.V,, hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau über diese Zeit aufzuklären, aufzuarbeiten, zu erinnern. Ohne diesen Verein wäre ich wohl nie über die Gräber der Zwangsarbeiter in Naunheim gestolpert. Ich hätte wohl nie darüber nachgedacht. Danke!
Es sind so unfassbar viele Kinder. Eine Schwangere kann nicht mehr so arbeiten wie eine nicht Schwangere. Da es keinen Arbeitsschutz für die Zwangsarbeiter gab, waren die eben nur unnütze Fresser, genau wie die Kleinkinder, die man einfach verhungern ließ. Der Wetzlarer Verein macht die Orte gut sichtbar. Die Tafeln sind groß und haben viele Infos. Eine Stele ohne Info bringt nichts. Nur wieder eine Gewissenswäsche für die Öffendlichkeit. Ich kann die Seite vom Verein Wetzlar Erinnert.e.V nur empfehlen. https://wetzlar-erinnert.de/
An Kinder als Zwangsarbeiter will sich niemand mehr erinnern. In fast jedem Dorf waren Kinder als Zwangsarbeiter auch in der Landwirtschaft eingesetzt, fragt man damals Gleichaltrige heute danach, ist das niemandem aufgefallen – aber dass alle “mit am Tisch gegessen haben”, weiß jeder ganz genau – so funktioniert Verdrängung und umso wichtiger ist es, die Schicksale der Zwangsarbeiter aus der Vergessenheit und dem Vergessen machen zurück zu holen.
Die Gräber der Zwangsarbeiter auf den Friedhöfen verschweigen, wo die Zwangsarbeiter arbeiten mussten, warum sie sterben mussten. Die Spuren der in Hadamar und anderen Mordanstalten ermordeten Zwangsarbeiter sind an den Orten wo diese Morde ihren Ausgang nahmen und bei den meisten auch wo sie vollendet wurden, verweht. Aus Wetzlar wurden 30 Zwangsarbeiter nach Hadamar in den Tod geschickt, aus Lollar 7. Weitere 16 Wetzlarer Zwangsarbeiter wurden in das Lager Pfaffenwald in den Tod geschickt, die meisten davon schwangere Frauen und ihre Kinder.
Danke für Deinen Beitrag zum Thema, es bleibt noch viel zu tun!
Vielen Dank für den aufschlussreichen Beitrag, Frau Freeman. Er findet insofern mein spezielles Interesse, als ich seit einigen Monaten im Rahmen einer Stolpersteininitiative in Kempten (Allgäu) dabei bin, ein ebensolches Gräberfeld mit ca. 150 “Verscharrten” Ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Es geriet nicht nur in Vergessenheit, es wurde außer ein paar Eingeweihten noch nie jemand bekannt! Vor langer Zeit wurden zwar zwei Stelen errichtet, eine auf dem dem unmittelbar angrenzenden jüdischen Friedhof mit 6 Namen dieser Opfer, welche Juden waren. Eine weitere mit 19 Namen nichtjüdischer Opfer auf der benachbarten Wiese, in der das Gros verscharrt wurde. Diese Stelen sind für Nichtkenner schwer zu finden und der Hintergrund ist überhaupt nicht erkennbar.