Alles passiert zweimal, könnte mensch denken. Schon vor etlichen Jahrzehnten sollte die Philosophenstraße, vom Baustandard her eher ein Feldweg zwischen dem Stadtteil Wieseck und dem Ursulum, für den Durchgangsverkehr gesperrt werden. Vereinbart war das als Ausgleich für den Bau der Anschlussstelle „Wieseck“ an der A485. Doch das Versprechen wurde nicht erfüllt – ebenfalls nicht der Vorschlag, den damals die CDU als Kompromiss einbrachte, aus dem Teilstück in Wieseck eine gepflasterte Spielstraße zu machen.
Seit einigen Monaten nun keimt die Idee neu auf. Ausgelöst hat das die Debatte um einen Radweg neben der Straße, der vor allem den Autofahrenden nützen würde, die dann freiere Fahrt hätten. Leidtragender wäre hingegen das Natur- und Naherholungsgebiet. Also forderten viele sofort, die Philosophenstraße einfach für Autos zu sperren und zur Fahrradstraße zu machen. Um dem Nachdruck zu verleihen, wollten sie am 19. und 20. Juni für diese Idee demonstrieren – natürlich auf der Philosophenstraße.
Das Versammlungsrecht ist da auch ganz klar: Eine Demonstration darf dort stattfinden, wo der unmittelbare Bezug zum Thema da ist. Doch das Ordnungsamt Gießen, eine Abteilung im Zuständigkeitsbereich des seine letzten Tage im Amt verbringenden CDU-Bürgermeisters Neidel (der es als ehemaliger Richter sicherlich besser weiß!), verbot die Nutzung der Straße. So entstand ein bizarrer Rechtsstreit um eine der unbedeutendsten Straßen der ganzen Region, die zudem noch einfach umfahrbar wäre, also nur als kleine Abkürzung von Wieseck zum Autobahnanschluss dient. Die Demoanmelder zogen vor das Gießener Verwaltungsgericht, aber die dortige Kammer um den NPD-Sympathisanten Höfer bestätigte das Verbot. Um zu verhindern, den skandalösen Beschluss in einer weiteren Instanz überprüfen zu lassen, ließen sie sich für das Eilverfahren eine ganze Woche Zeit. So ging es hektisch in die zweite Instanz – und auch die bestätigte das Verbot. Das Ergebnis war eine Loose-Loose-Situation: Am Hauptaktionstag, dem Sonntag, konnten Autos in die Philosophenstraße hineinfahren, um dann auf Höhe der Wieseckhalle von der Ordnungspolizei auf den dortigen Parkplatz oder zurück geschickt zu werden. Schon im Normalzustand wurde die Störung für etwaige Rettungsfahrten gegenüber einer gesperrten Straße deutlich größer. Aber um irgendein sinnvolles Ziel ging es auch nicht. Der Kleinkrieg gegen die Verkehrswendeaktiven war Selbstzweck. Aber er hatte wenig Erfolg …
Schöner Auftakt – aber neben der Straße
Durch das Verbot, die Philosophenstraße nutzen zu können, geriet die Demonstration zu einer Farce. Die gewählte Form der Versammlung, selbst zu zeigen, was auf einer autofreien Straße alles möglich wäre, wurde verwandelt in das genaue Gegenteil: Es zeigte, was alles Schönes passieren könnte, neben der Straße. Musik, Redebeiträge, Infostände, Lesungen, Kinderspiel und zum Abschluss ein Film – all das musste auf dem Vorplatz des Wiesecker Bürgerhauses stattfinden. Es schuf dort eine anregend-kreative Atmosphäre, aber wenige Meter daneben rauschte weiter der Verkehr vorbei. Allerdings nicht lange. Zwei Gehzeuge, das sind einfache Holzrahmen in der Größe eines Autos, die mit Gurten über die Schulter gehängt werden, wurden von zwei Menschen ganz gemächlich Richtung Wieseckaue getragen. Sofort stürmten die übermotivieren Ordnungsamtsbediensteten und die von ihnen befehligte Polizei heran, kesselte die zwei und schob sie schließlich mit Zwang auf dem Gehweg, der dadurch voll blockiert war. „Oben ist ein Tripod errichtet“, krächzte es aus dem Funkgerät. Entsetzte Blicke kreuzten sich. „Oh nein, ein Tripod.“ „Scheiße.“ In der Tat: Oben an der Philosophenstraße, nahe der Gießener Straße befand sich ein Dreibein als langen Metallstangen – und an der Spitze baumelte eine Demonstrantin in einem Hängesitz. Die Polizei musste den Bereich ohnmächtig absperren und den Verkehr regeln. Viele Stunden später, es dämmerte bereits, wurde dann die gesamte Kreuzung gesperrt. Maskiere Spezialkräfte räumten das Hindernis mit Hilfe der Berufsfeuerwehr. Derweil lief weiter unten der Film „One Word“ im Rahmen der Globale Mittelhessen – ungestört von irgendeinem Verkehrslärm. Es war eine tolle Stimmung.
Der Sonntag: Buntes Leben ohne Autoverkehr
Am zweiten Demonstrationstag war dann der Straßenverlauf in der Wieseckaue tatsächlich gesperrt. Viele verschiedene Infostände, Mitmachaktionen, Ausprobieren von Spezialrädern, Müllsammeln, naturkundliche Exkursionen, Fahrradcodieraktionen und mehr wechselten sich dort. Die Sperrwirkung der Philosophenstraße, die dort den überregional wichtigen Fahrradweg „R7“ in zwei Teile trennt, war aufgehoben – und viele dort entlangkommende Radler*innen verweilten eine Zeit lang in der schönen Atmosphäre des Straßenfestes. Im Bereich der Bühne trugen Künstler*innen ihre Prosatexte und Musikstücke vor, abwechselnd mit politischen Beiträgen und dem Polittalk, zu dem alle Ortsbeiratsmitglieder eingeladen waren. Nur eine Partei kam und sprach sich für eine Fahrradstraße auf der Philosophenstraße aus. Die Freien Wähler verwunderten mit einer schriftlichen Stellungnahme, in der sie die Fahrradstraße ablehnten, weil die Verkehrsflächen zwischen Fahrrad und Auto gleichberechtigt aufgeteilt werden sollten. Auch die CDU kam nicht, obwohl sie schon 1980 die Sperrung der Philosophenstraße forderte und 1992 mit ihrem Antrag, die Straße im Wiesecker Ortsbereich in eine gepflasterte Spielstraße zu verwandeln, das nochmal bestätigten und bekräftigen. Trotzdem ereiferte (Zitate Gießener Anzeiger) sich der Ortsvorsteher (CDU) mehrfach über die Aktion bis hin zu Beleidigungen. Die Vorschläge seiner eigenen Partei in der Vergangenheit hatte er bereits Tage vorher als „utopisch“ bezeichnet.
Ein Blick in die Zukunft
Der Aktionstag endete mit einer Raddemo durch größere und kleinere Straßen von Wieseck, vorbei an Kindergärten, Schulen und anderen Einrichtungen, die dringender einer gefahrlosen Anfahrbarkeit zu Fuß, mit Fahrrad und mit Bussen bedürfen. In Wieseck ist nun eine Initiative für eine Verkehrswende entstanden. Sie hat Vorschläge für Fahrradstraßen und eine Straßenbahnlinie erarbeitet, die in die Gießener Verkehrswendepläne eingearbeitet wurden (siehe giessen-autofrei.siehe.website). Ein Teil wurde auf der Raddemo abgefahren und erläutert. Jetzt kommt es darauf an, dass sich genügend Mitstreiter*innen für eine Verkehrswende in Gießens Nordosten einsetzen. Bis zu der vom FW-Chef vermutlich versehentlich formulierten, aber völlig richtigen Formulierung nach einer gleichberechtigten Verteilung der Verkehrsfläche ist ein weiter Weg. Die Umwidmung der Philosophenstraße in eine Fahrradstraße wäre ein geeigneter Beginn dieser gleichberechtigten Verteilung. Wieseck ist mit einer eigenen Autobahnabfahrt an das überregionale Straßennetz angebunden. Mit der Marburger Straße und den dorthin führenden Wohnstraßen ist der Ortsteil für Autos ausreichend erschlossen. Für Fahrräder braucht es ein ebenso zusammenhängendes und sicheres Netz von Verbindungen. Da als Verbindung durch die Wieseckaue für den Radverkehr nur die Philosophenstraße in Frage kommt, diese von Autos über die A485 aber einfach umfahrbar ist, gibt es zu dieser Aufteilung keine Alternative. Hinzu müssen eine Straßenbahnverbindung, gesicherte und großflächigere Fußbereiche sowie insgesamt eine Verkehrsberuhigung kommen. Alle Menschen, denen Lebensqualität, gefahrlose Mobilität für alle Altersgruppen, Umwelt- und Klimaschutz am Herzen liegen, sind eingeladen, an Aktivitäten für eine solche Verkehrswende mitzuwirken.
Kontakt: marie_esefeld@web.de
Danke für den sehr informativen Beitrag.
Der Sachverhalt ist mit (….) ” …. die Umwidmung der Philosophenstraße in eine Fahrradstraße wäre ein geeigneter Beginn ((für die Gießener Verkehrswende)) …. ” (…..) gut beschrieben.
Warum: Weil es keinerlei realistische Perspektive ist, dass irgendetwas propagiert wird, wo öffentlicher Verkehrsraum allen Nutzern – mehr der weniger – gleichbereichtigt zur Verfügung gestellt wird.
Um es klar zu sagen: Die Autos als Hauptdreckschleuder müssen mittelfristig aus der Stadt raus und das heisst – als zwingend notwendiger Zwischenschritt – den Autofahrern müssen öffentliche Flächen konsequent entzogen werden bzw. die Nutzung bestimmter Flächen muss konsequent vergält werden.
Nur so – schade, dass das leider nicht durch Überzeugungsarbeit gelingt – wird den Nutzern von Autos die Verpestung der Luft in Giessen verunmöglicht.
Autos raus – alleine reicht nicht. Und das ist das Gute des bunten Bündnis in Giessen. Es müssen parralllel zu den Verdrängungsmaßnahmen Alternativen angeboten werden. Das Vorgeschlagene ist nicht nur sehr bunt, sondern auch sehr praxisnahe.
Bitte macht weiter so.
Genau zu diesem Thema habe ich vor Kurzem eine dicke Broschüre in die Finger bekommen:
“Verkehrswende”; Verkehrswende in Mittelhessen; Ziele und Materialien Vorschläge; von Oktober 2020; keine ISBN; 144 Seiten; viele Farbfotos,Karten etc.; Herausgeber: Kreistagsfraktion Gießener Linke; Kontakt: kreisfraktion(et)linkes-giessen.de